Inhalt
2. Parallelen zur Feldenkrais-Methode
3. Musikalische Gesprächsführung und Struktur
Einleitung
Datum: 22.12.2011
Persönlicher Kontakt zum Gesprächspartner
Ich habe Alan Bern (A. B.) im November 2011 als Dozenten bei der Herbsttagung des Rings für Gruppenimprovisation kennen gelernt. Der Kontakt war bisher aus seiner Rolle des Workshopleiters und aus meiner Rolle der Teilnehmerin.
Theoretical sampling
Während des Workshops fiel mir auf, dass A. B. durch sehr klare Aufgabenstellungen, die sich auf kurze Zeitfenster bezogen, die Gruppe führte. Ich war fasziniert von seiner Improvisationsmethodik. Er bezeichnet die Tätigkeit des Improvisierens als „in Echtzeit Komponieren“. Der Improvisator ist zuerst Komponist und erst als zweites ausführender Musiker. Dies hat einen Einfluss auf die Entscheidungen, die er während eines so entstehenden Werkes in Echtzeit treffen muss.
Während einer Pause erzählte A. B. zufällig, dass er zu umfangreicheren Kursen seit einiger Zeit einen Feldenkrais-Practitioner einlädt, weil er der Meinung ist, dass Feldenkrais so gut zu seiner Arbeit passt. Diese beiden Tatsachen haben mich motiviert, ihn zu einem Gespräch zu bitten. Ich hatte noch keine Person, die aus der Perspektive des improvisierenden Musikers auf die Feldenkrais-Methode schaut. Ich selber bin Feldenkrais-Practitioner und auch GP 1 (FG 1) und GP 2 (FG 2) sind Feldenkrais-Practitioner und vergleichen aus dieser Perspektive. A. B. hat seinen methodischen Ansatz noch nicht veröffentlicht und ich wählte deshalb das Gespräch als Form, ihn für meine Forschung zugänglich werden zu lassen.
Im Juni 2014 hielt A. B. einen Vortrag auf dem Symposium „Improvisation erforschen – improvisierend forschen“ im Exploratorium in Berlin. Die deutsche Übersetzung seines Vortrages ist als unveröffentliches Manuskript mit dem freundlichen Einverständnis des Autors der Transkription dieses Forschungsgespräches beigefügt.
Allgemeines zum Gespräch
Ausgehend von der Frage nach der Parallelität zwischen Feldenkrais und Improvisation haben sich folgende Themen und Fragen durch das Gespräch gezogen:
Wo kommen Impulse her und wie können wir sie auswählen?
Was ist der Unterschied zwischen einem Impuls und einer Idee?
Was bedeutet es, eine offene Intention zu haben?
In welcher Haltung muss ich mich als Improvisator befinden, um den Herausforderungen einer Improvisation gerecht werden zu können?
Die Frage nach dem Individuum in einer Gruppe und der Improvisation als System war eine Art Schlussfolgerung aus dem Gespräch. Die Hinweise zu Aspekten der Bewegung kamen fast wie automatisch immer wieder zum Tragen als logische Schlussfolgerung aus der Haltung des Improvisators.
Gesprächsdauer war ca. drei Stunden.
Auszüge aus dem Gespräch
1. Löwen und Gazellen
Als Einstieg erläutere ich meine Forschungsfrage.
A. B.:
Ich glaube, dass das Phänomen der versteiften Körper mit einem unterentwickelten rhythmischen Sinn zusammen hängt. Um rhythmisch frei zu sein, muss der Körper frei sein. Und diese rhythmische Schwäche findet man immer wieder. In dem Workshop waren ein paar Leute, die fast am Weinen waren. (…) Und wenn Musizieren aus einem rhythmisch organisierten Körper kommt, dann ist der Körper auch frei.
C. E.:
Das ist Timing. Du musst ja genau entscheiden, wann du deine Töne spielst.
A. B.:
Ja, und es gibt eine bestimmte Vorstellung, dass man sich für große Konzentration anspannen muss. Du kannst eine Bewegung aus großer Anspannung heraus machen und sie ist entspannt. Das hat nichts mit Relaxen zu tun. Das ist so wie bei Raubkatzen. Die verstecken sich und sind in einer ungeheuren Spannung und was in dem Moment, wo sie auf ihr Opfer losspringen, geschieht, ist Entspannung. Die lassen diese Spannung los. Und viele von uns, um Fehler zu vermeiden, verspannen sich genau in dem Moment. Das ist die Verwechslung der Kontrolle mit dem Moment der Entspannung mit dem Moment der Verspannung. Um Fehler zu vermeiden, verspannen sich die Musiker ganz besonders und das ist ein völlig falscher Kontrollvorgang im Körper, über Verspannung.
C. E.:
Auch Feldenkrais hat gelegentlich den Vergleich zu Raubtieren gebraucht. Der Löwe muss das Timing haben, die Gazelle zu fangen und die Gazelle muss das Timing haben, dem Löwen zu entkommen.
A. B.:
Als Musiker sind wir mehr in der Rolle des Löwen als in der Rolle der Gazelle. Du hast eine Zeit übergreifende Intention, wo du hin willst. Dann musst du natürlich mit der Wirklichkeit umgehen, dass die Gazelle nicht das tut, was du am liebsten hättest, nämlich direkt in deinen Mund zu laufen. Aber der Impuls, einen Impuls zu geben und zu folgen, leitet die ganze Handlung mit den Gazellen ein. Und die Gazelle weiß nichts davon.
2. Parallelen zur Feldenkrais-Methode
A. B.:
Ich kann dir sagen, dass für mich Feldenkrais zwei Bedeutungen hatte.
Die eine war, dass ich selber einen Unfall hatte. Ohne Feldenkrais hätte ich wahrscheinlich nicht mehr spielen können. Das war für mich dann im übertragenen Sinne lebensrettend.
Die andere Ebene war in den Gruppenstunden. Da habe ich erkannt, dass ich seit Jahrzehnten mit genau so einer Methode geübt habe. Ich dachte dann, für meine Workshopteilnehmer ist es interessant zu sehen, dass die Art, wie wir mit Musik arbeiten, dass das nicht Musik spezifisch ist, sondern dass es eine Art ist, mit sich selber und mit anderen um zu gehen. Die Idee, dass wir Feldenkrais am Vormittag machen, ist wie so eine Einstimmung. Das man grundsätzlich daran erinnert wird, wie gehe ich mit „Fehlern“, mit „Problemen“, Herausforderungen usw. um. Das war eine Basis für die anderen Herausforderungen, die auf einen zukommen, später am Tag. Die meisten Menschen, die zu uns kommen, sind auch traumatisiert. Und in dem Moment, wo ein Problem auftaucht, was mit Körper oder Kontrolle oder Fehlern zu tun hat, dann ist die Tendenz sehr stark, in alte Muster zurück zu fallen. Und jeden Tag eine Erinnerung zu haben, dass die Ausgangsbasis eine andere sein kann, das finde ich sehr sehr hilfreich.
C. E.:
Gibt es noch mehr Parallelen zwischen den Feldenkrais-Übungen, die du kennst und deiner musikalischen Arbeit?
A. B.:
Ich würde sagen, dass die wichtigste Parallele diese A-B-Vergleiche sind. Wir machen etwas auf einer Seite, auf eine Weise und dann gucken wir, was das mit unserem Bewusstsein macht. Also, wir machen etwas mit rechts und danach nicht unbedingt mit links, weil wir verstehen wollen, was es für einen Unterschied macht. Das ist, was ich schön finde im Vergleich zu Alexander oder Yoga usw. Es geht nicht darum einen bestimmten Standard in der Körperhaltung zu erreichen, sondern das Bewusstsein dafür zu haben, welche Alternative man hat oder man übersieht oder vergessen hat. Oder überhaupt die Spontaneität zu verstehen. Und das man das an dem eigenen Körper am stärksten erleben kann. Wenn du nach zehn Minuten das Gefühl hast, dass deine rechte Hand zwei Mal so groß ist wie deine linke Hand oder zwei Mal so viel wiegt, dann ist das sehr beeindruckend.
C. E.:
Feldenkrais hat ja ein ganzes Buch über Spontaneität geschrieben. „Das starke Selbst. Anleitungen zur Spontaneität“. Besonders fasziniert mich die Idee der Umkehrbarkeit. Eine Bewegung hat dann eine optimale Qualität, wenn du sie in jedem Moment stoppen, zurückführen, oder in eine andere Bewegung oder Handlung verwandeln kannst. Dazu muss die Bewegung bzw. die Handlung eine Neutralität haben. Du darfst nicht emotional an deiner Idee kleben. Wenn du z.B. spontan einen Freund besuchen willst. Der Freund ist zu Hause und sagt dir aber, dass er keine Lust hat, dann ist die Frage mit welcher Leichtigkeit du wieder nach Hause gehst und gut gelaunt den Abend anders verbringst. Wenn du beleidigt bist, dann war die Handlung nicht neutral, sondern hatte irgendeine andere Motivation. Du musst also im Stande sein, eine Idee zurück zu nehmen, so wie wir das beim Improvisieren ständig auch haben.
A. B.:
Es gibt viele Möglichkeiten, mit sich selbst beschäftigt zu sein. Das kann dazu führen, dass man nicht mehr in der Lage ist wahr zu nehmen oder zu reagieren. Diese Störung kann an beiden Punkten sein. Für mich gibt es erst mal die Frage: Was kann ich wahrnehmen? Und dann auch: Worauf kann ich reagieren? Möglicherweise höre ich ganz genau, aber ich bin nicht fähig zu reagieren – aus verschiedenen Gründen. Oder meine Reaktion ist in diesem Sinne impotent aus anderen Gründen.
Es ist nicht nur, dass ich bestimmte Musik im Kopf habe, sondern es kann ganz viele Gründe geben, warum ich nicht reaktionsbereit bin.Ich habe nicht so viel Erfahrung mit Feldenkrais, aber ich erkenne sehr viele Parallelen auf der philosophischen Ebene. Z.B. ist es sehr klar, dass es ein Prozess ist, diese Autonomie des Daseins zu erreichen. Viele von uns sind viel weniger frei, als sie denken. Für mich gibt es einen wesentliche Dialektik zwischen Individuum-Sein und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Ganz prinzipiell, um zu einer Gruppe zu gehören, musst du ein Individuum sein und um Individuum zu sein, musst du auch zu einer Gruppe gehören können. Und es gibt aus ganz verschiedenen Gründen Menschen, die Angst haben, zu einer Gruppe zu gehören und dann andere Menschen, die das Gefühl haben, es geht ihnen nur gut, wenn sie in einer Gruppe sind. Die Angst, alleine zu sein, ein Individuum zu sein. Und ich glaube, dass man nicht wirklich Individuum ist, wenn man nicht in der Lage ist, auch zu einer Gruppe zu gehören und umgekehrt auch. Und da gibt es ganz viele unterschiedliche Traumata. Ich kenne viele Leute, die sich von allerlei gesellschaftlichen Erwartungen, die sie unter Druck setzen, befreien müssen. Sie haben dann eine Freiheit erkämpft und die Konsequenz ist dann sehr häufig eine Isolierung. Und sie haben dann oft Angst, echten Kontakt mit anderen zu haben. Sie wollen das, haben eine große Sehnsucht danach und können es aber nicht. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die immer in Massen eine Sicherheit suchen. Sie meinen dann, dazu zu gehören. Das ist vor allem immer wieder ein kollektives Phänomen in Europa im 20. Jahrhundert. Und für sie ist es sehr beängstigend, als freies Individuum zu sein. Und ich glaube, dass Feldenkrais eine ähnliche Vision vom menschlichen Dasein hatte. Man muss beides können. Oder ich würde sogar sagen, es gibt nicht das eine ohne das andere. Martin Buber hat das sehr schön in seinem Buch „Ich und Du“ erfasst. Das ist natürlich eine Metapher. Buber sagt, wenn ich authentisch „Ich“ sage, dann sage ich immer auch „Du“. Und wenn ich authentisch „Du“ sage, dann sage ich auch immer „Ich“. Und für mich ist das nicht nur eine Metapher, sondern es stimmt als Epistemologie. Das ist einfach wirklich so.
3. Musikalische Gesprächsführung und Struktur
A. B.:
Ein Teil meiner Arbeit ist auch, dass ich mir komponierte Musik anschaue und zwar Momente in komponierter Musik, die mich sehr faszinieren. Und ich überlege mir dann, was müsste man können, um genau diesen Moment zu improvisieren. Im englischen heißt das“ reverse engineering“. D.h. du hast einen Gegenstand und versuchst die Ausgangsbedingungen zu verstehen und zu analysieren an Hand der Eigenschaften des Gegenstandes. Und es gibt natürlich bestimmte Dinge, die unmöglich sind zu improvisieren. Z.B. wenn du eine Folge von 20 Tönen oder auch 120 Tönen hast und die kommen ein Mal vor und die haben keine erkennbare Wiederholung. Und dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass fünf Leute genau diese Töne in Unisono spielen. Das kann man komponieren, aber das kann man nicht improvisieren. Aber sehr sehr viele Phänomene, die in der Musik vorkommen, wo man denkt, dass müsste komponiert sein, kann man improvisieren. Und was mich vor allem interessiert hat, waren Zeit übergreifende Vorgänge. Damit meine ich bestimmte Phänomene, die sich wirklich nur über längere Phasen entfalten. Die Tendenz in improvisierter Musik – vor allem in frei improvisierter Musik – ist, immer sehr stark nach vorne zu gucken. Und wenig Bezug darauf zu haben, was man schon gespielt hat, oder auch nur ein bisschen etwas zu spielen, damit eine Erwartung gestört wird, die dann erst später eigentlich entwickelt wird. Also, anstatt einen Impuls voll aus zu spielen, in diesem Moment einen Impuls nur an zu tippen. Das ist dann wie ein Thema, was erst viel später im Stück vorkommt. Solche Vorgänge sind Prozesse, die wir begreifen können, aber wir müssen auch erwarten, dass solche Prozesse vorkommen können. Wenn wir diese Erwartung nicht haben, dann können sie auch nicht vorkommen. Die Idee hinter meinem Training, was Schritt für Schritt vorgeht, ist eigentlich nichts anderes, als die Erwartungen zu bestätigen. Wir können das. Wenn das dann mal vorkommt, dann ist das kein Zufall. Das kann eine Bedeutung haben. Das kann eine Form haben. Wir wissen beide, dass wir diesen Moment ähnlich verstehen können. Das ist die Basis. Es gibt so viele Sachen, die möglich sind, aber nur deshalb, weil wir feststellen, dass sie möglich sind und daran glauben, dass sie möglich sind.
C. E.:
Das ist wie bei Feldenkrais: Wir pflücken eine Bewegung auseinander, und dann wird sie möglich. Vorher wussten wir gar nicht, dass wir sie machen können. Und nur, wenn wir das wissen, werden wir die Bewegung auch benutzen. Feldenkrais hat dazu ja auch gesagt: „Wir handeln nach dem Bild, was wir uns von uns machen“.[1] Man könnte das jetzt auf Improvisation übertragen: Wir handeln nach dem Bild, was wir uns von unseren improvisatorischen Möglichkeiten machen.
A. B.:
Ganz genau. Ich bin überzeugt, dass unsere Möglichkeiten in Echtzeit viel vielfältiger und differenzierter sind, als wir das normalerweise glauben. Und diese Überzeugung kommt aus sehr vielen Erfahrungen. Aber eine Erfahrung, die für mich sehr wichtig war. Auf Englisch heißt das „conversation theory“. Das gibt es seit 20 oder 30 Jahren. Das hat in der Linguistik-Philosophie begonnen und auch in der Anthropologie. Wenn du ein Gespräch liest, an dem 4 oder 5 oder auch 9 Leute teilnehmen über eine halbe Stunde. Dieses Gespräch hat eine extrem komplexe Struktur. Themen werden erwähnt, die erst mal zehn Minuten diskutiert werden. Andere Themen werden erst mal angesprochen und erst fünf Minuten später wieder aufgegriffen. Es gibt extrem interessante, zeitübergreifende Strukturen. Interessant ist auch die Bedingung dafür. Das ist eine Art unbewusste analoge Verhandlung darüber, über was wir jetzt gerade sprechen. Es gibt kein Metaskript, wo die Teilnehmer sich einigen, worüber sie in der eigentlichen Sprache sprechen.
Beispielsweise haben wir beide uns nie geeinigt, was ein Interview ist. Aber in der Art und Weise, wie wir jetzt hier das Interview machen, verhandeln wir auf einer Metaebene, was ein Interview ist. Das ist verrückt. Und wir sind Meister in so was. Wenn es genügend kulturelle Gemeinsamkeiten gibt und die Sprache ähnlich genug ist, dass sie ihren Zweck erfüllt, dann komponieren wir das Gespräch in Echtzeit, ohne vorher die Form zu bestimmen. Und wenn wir das in der Sprache machen können, hatte ich die grundlegende Überlegung, warum können wir das nicht in der Musik. Und dann gingen meine Gedanken zurück. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und auch heute noch, haben viele Leute gesagt, dass Musik eigentlich keine Semantik hat, dass sie eigentlich keinen Sinn hat. Und damit wäre die erste Bedingung nicht gegeben. Wenn wir in der Musik nicht in der Lage sind zu sagen: Dieser Beitrag ist jetzt relevant oder nicht relevant. Oder passt zum Thema, oder passt nicht. Dann geht das natürlich nicht. Dann hätten wir nur die Möglichkeit, dass uns ein Komponist die Musik gibt und wir spielen, was er uns gesagt hat oder wir einigen uns im Vorfeld oder ich spiele ein Solo. Aber tatsächlich die Form des Stückes in Echtzeit zu kreieren, nicht auf einer Metaebene, wo wir das ausdiskutieren, sondern im Tun. Das ist nur möglich, wenn die musikalische Sprache einen Sinn hat. Es ist nicht der gleiche Sinn, wie die Sprache hat, aber eben einen musikalischen Sinn.
C. E.:
Bestimmte Sachen passen halt zusammen. Stile sind z.B. wie eine musikalische Sprache. Ich habe im Moment einen Pianisten im Kurs, der die ganze Zeit mit ganz vielen Tönen in so einer Liszt-Harmonik spielt. Das Problem ist, dass niemand wirklich dazu spielen kann. Ich habe ihm auch schon gesagt, dass das seine Sprache ist und dass nur leider sonst niemand aus dem Ensemble richtig in dieser Sprache sprechen kann.
4. Rolle beim Improvisieren
A. B.:
Ja, es gibt viele Formen von Narzissmus. Und es gibt das auch auf sehr subtile Weise. Für mich sind deswegen Grundlage, um meine Methode in Gang zu bringen, zwei ganz wichtige Prinzipien. Ich begreife auch mit der Zeit immer mehr, wie wichtig diese zwei Prinzipien sind. Das ist eigentlich wie eine Art Vorbereitung auf bestimmte innere Bedingungen. Das sind so zu sagen die Grundbedingungen. Das erste Prinzip ist, dass ich zuerst Komponist bin und als zweites Musiker. Das bedeutet, dass ich eigentlich überhaupt kein Bedürfnis habe zu spielen. Ich bin zufrieden, wenn die Musik gut klingt, oder ich spiele oder nicht. Ich komponiere diese Musik ja. Das zweite Prinzip ist, dass ich für die ganze Musik verantwortlich bin, die ganze Zeit. Nicht nur, wenn ich spiele, sondern auch wenn ich nicht spiele, bin ich auch Komponist. Und dieser Liszt-Spieler, das bedeutet für mich, dass er auf sein Bedürfnis zu spielen fixiert ist und nicht auf die Ebene der Musik. Und wenn er sein narzisstisches Bedürfnis übertragen kann auf die Ebene der Musik, dann kann er genauso dieses narzisstische Bedürfnis haben, aber nicht weil er spielt, sondern weil die Musik im Ganzen klappt. Aber nicht alle können das.
Und ein Ausgangspunkt für mich war, dass ich besonders fasziniert bin, wenn ein Instrument, was ich die ersten 20 Minuten gar nicht gehört habe, plötzlich drei Töne spielt. Und da ist die Frage, ob man von einem improvisierenden Musiker erwarten kann, dass er für 20 Minuten da sitzt und nur drei Töne spielt. Und meine Antwort darauf ist, dass das geht, wenn er sich mit der musikalischen Ebene identifiziert und nicht mit seinem eigenen Spiel. Und deshalb ist das wie eine Art Vereinbarung oder Absprache oder fast wie ein Vertrag. Und man vergisst das natürlich immer wieder. Und wenn man analysiert, warum eine Improvisation in meiner Methode schief geht, dann ist das eigentlich immer, weil man diesen Punkt irgendwie vergessen hat. Das ich eigentlich auf mich geachtet habe und nicht auf die Musik. Und dieses Auf-mich-Achten, das geht in beide Richtungen. Auch solche Überlegungen: Ich habe jetzt die letzten 15 Minuten nicht gespielt, dann dachte ich, dass es jetzt meine Zeit ist. Das hat nichts mit Musik zu tun. Das hat nur mit sich selbst zu tun. Oder ich habe jetzt eine Minute gespielt und die Anderen sind nicht dazu gekommen und ich habe langsam das Gefühl, dass die vielleicht nicht mögen, dass ich so lange spiele. Das hat auch nicht mit der Musik zu tun, sondern mit sich selbst. Ich denke, dass man so fixiert sein muss auf das Ziel, die Musik, was zählt und nicht ich. In der Musik. Man kann total exponiert spielen, ohne das Gefühl zu haben, dass man unhöflich ist, und auch total zurückhaltend, ohne das Gefühl zu haben, dass man hier scheu ist. Was ich aber gelernt habe – und das finde ich so wunderbar und es betrifft auch das Thema Nervös-Werden und Lampenfieber – solange du deine Aufmerksamkeit auf das Zuhören lenken kannst, dann passiert das nicht.
5. Freie Wahl
A. B.:
Um zurück zu der Frage zu kommen, was ich für Parallelen zu Feldenkrais sehe: Die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen, ist für mich eine wichtige Parallele zu Feldenkrais.
C. E.:
Das ist dieses berühmte Zitat von Feldenkrais: „Wenn du weißt was du tust, kannst du tun, was du willst“.[2]
A. B.:
Ja, und ich bin gefragt worden, ob es ein Unterschied ist mit Jazzern und Klassikern für meine Methode. Und ich finde, dass es kein Unterschied ist, denn weder in der Klassik noch im Jazz befasst man sich in der Ausbildung damit, dass man wirklich in dem Moment weiß, was man tut und eine Wahl treffen muss. Du lernst immer mehr Sprachen, du lernst immer mehr Noten und was man machen kann, aber was du gar nicht lernst, ist, zu entscheiden in dem Moment, was du machst und warum. Das lernt man nicht. Und wenn ich Workshops mache, dann setze ich dort an, wo ich merke, dass die Menschen noch ganz frei sind zu entscheiden. D.h. das Material, mit dem wir arbeiten ist nie komplizierter, als die Möglichkeit, die diese Gruppe vor mir hat, frei zu entscheiden. Und manchmal ist das nur ein Ton.
C. E.:
Das ist ja auch total entspannend, wenn man so ankommen kann mit einer Aufgabe, die so einfach ist, dass sie jeder machen kann.
A. B.:
Ja, und du merkst in dem Moment, wenn du richtig zuhörst, was mit diesem einen Ton entstehen kann. Es gibt da ja überhaupt kein technisches Problem, sondern nur eine künstlerische Aufgabe. Ich kann mich für einen Ton entscheiden. Natürlich kann ich einen Ton spielen. Ich brauche gar nicht nervös zu sein. Und mit der Entscheidung – welchen Ton – kann ich tatsächlich etwas mit gestalten, was sehr schön sein kann.
6. Umgang mit Impulsen
Zusammenfassung
A. B. erklärt eine seiner grundlegenden Aufgaben. Man wiederholt immer den gleichen Ton für eine Minute. Er selber hat das im Alter von 15 Jahren für 15 Minuten versucht und gemerkt, wie viele Gedanken dann durch den Kopf geistern, die nichts mit dem Ton zu tun haben. Die erste Stufe der Aufgabe ist, dass man einen Ton für eine Minute wiederholt und alle Gedanken und Impulse einfach nur wahrnimmt, ohne sie durch zu lassen.
A. B.:
Was mir aufgefallen ist in dem Moment, wo du dich entscheidest eine Sache zu machen, egal, was das ist, dann kommen Tausende andere Impulse, was du sonst machen könntest in der Zeit, und die wollen auch in dem Moment. Die wollen gemacht werden. Das ist wie tausend Kinder, die in dem Moment sagen: Aber ich! Ich! Ich! Ich bin hier und ich will auch. Erst habe ich gedacht, dass das Ablenkungen sind. Erst später bin ich darauf gekommen, dass es eigentlich eine Quelle ist für alles Mögliche. Das ist das, was in mir tatsächlich vorgeht. Und wenn ich einen Bezug zu diesem Strom an Impulsen finden kann und mich für einige entscheiden und gegen andere entscheiden kann, dann bin ich in einem schöpferischen Fluss, der nicht oder nie aufhört. Solange ich bewusst bin.
C. E.:
Die Steuerung von Impulsen.
A. B.:
Das ist der Punkt.
A. B. erläutert erneut genauer seine Übungen. Kurzzusammenfassung: In der A-Übung repetiert man einen Ton und nimmt alle Impulse wahr. In der B-Übung repetiert man einen Ton und setzt alle kommenden Impulse unmittelbar um. Alles ist erlaubt. In der C-Übung repetiert man einen Ton und man wählt aus den Impulsen einen Impuls aus und setzt ihn sofort um.
A. B.:
Um die C-Übung[3] ausführen zu können, braucht man die Grundeinstellung wie ein Löwe, der bereit zum Angriff auf das Zebra wartet und dann ohne Zögern wahnsinnig schnell ist.
Da gibt es nichts zwischen dem Impuls und dem tatsächlichen Losgehen. Und das ist das Ziel. Und wenn wir das erreichen können, dann haben wir das Erlebnis, auf dem alle anderen Improvisationsübungen basieren. Meine Wunschvorstellung ist, dass ich auch auf einer viel höheren Ebene, wenn ich etwas spiele, was ich vor 20 Minuten gehört habe, was der Geiger oder der Pianist gespielt haben, dass in dem Moment, wo ich das spiele, dass es genau diese Unmittelbarkeit hat. Und es muss diese Unmittelbarkeit haben. Das hat mit Spiegelneuronen zu tun. Die Unmittelbarkeit ist ein Zeichen, dass der Impuls tatsächlich von dem Körper kommt. Und alles, was dazwischen ist, ist eine Idee. Und Ideen sind unsichtbar. Ideen sind nicht transparent. Wir können uns nicht synchronisieren über unsere Ideen. Aber wir können uns synchronisieren über die Veräußerlichung unserer Impulse. Und deswegen ist der Klebstoff, oder anders gesagt der Träger, worauf die Möglichkeit, in Echtzeit komplexe Strukturen zu bauen, basiert, der Impuls.
C. E.:
Mir fällt da ein Beispiel ein. Ich trainiere eine japanische, aus dem Aikido und anderen Budokünsten entwickelte Kampfkunst. Sie heißt Taido. Manchmal machen wir im Training Übungen, die so was wie die telepathischen Fähigkeiten trainieren sollen. Eine davon geht ganz einfach. Man geht zu Zweit hintereinander her. Der Hintermann legt eine Hand auf den Rücken des Vordermanns und stellt sich vor, in welche Richtung der Vordere gehen soll. Man hat ganz klar vier Möglichkeiten: geradeaus, rechts, links oder stehenbleiben. Die zweite Version der Übung ist schwieriger. Man hat mit der Hand keinen Kontakt, sondern ca. 10 Zentimeter Abstand. (…) Aber ich habe etwas Lustiges bemerkt: Wenn der Hintere seine Gedanken ändert, dann entstehen Fehler. Er will z. B. nach links und hatte aber erst gedacht: Rechts, ach nee, doch lieber links. Bei mir kommt dann rechts an. In dem Fall haben wir es wahrscheinlich nicht mehr mit einem Impuls zu tun, sondern er wurde korrigiert und verzögert. Dadurch wird er als Information nicht mehr verständlich.
A. B.:
Viele dieser Ideen kommen ja aus dem Zen oder Aikido. Wir hier im Westen beginnen erst so langsam unsere Ansicht über das Subjekt zu ändern. Ein Subjekt zu sein, bedeutet ja auch immer, dass man ein Teil von einem System ist. Impulsgeber bedeutet auch immer, dass man Impulsnehmer ist. Wir sind nie in einer Situation, wo es nicht schon einen Impuls gibt. Du kannst dich nicht auf null setzen.
C. E.:
Ich überlege jetzt noch mal, was das für meine Forschungsfrage bedeutet. Für den Zusammenhang zwischen deinem Umgang mit den Impulsen und der Bewegungsqualität. Wenn du ein Werk von Beethoven spielst, dann sind die musikalischen Impulse schon da. Du musst den Impuls von Beethoven verstehen. Beim Improvisieren kommen die Impulse von irgendwo her. Meine Hypothese ist, dass das einen Unterschied macht. Vielleicht kannst du mal in dich hinein spüren und versuchen das zu beschreiben.
7. Entscheidungsfreiheit
A. B. erklärt seine A B C-Übungen in einer Version zu zweit.
A. B.:
Irgendwann ist es egal, ob du den Ton spielst oder ob ich den spiele. Du reagierst einfach auf etwas. Dieses Etwas entfacht in dir einen Impuls, und du hast die Wahl, ob du den Impuls veräußerlichen willst oder nicht. Eigentlich ist es eine Illusion, dass wir diesen Moment vor dem Impuls überhaupt wahrnehmen. Wir sind nur in dem Moment, wo ein Impuls entsteht. Aber es ist eigentlich egal, was dazu geführt hat, ob das von mir kommt oder von dir.
C. E.:
Wie steuerst du diese Wahl, ob du einen Impuls nimmst oder nicht?
A. B.:
Das kann ich nicht sagen. Ich würde gerne von einem Neurologen wissen, wie das Gehirn funktioniert. Für mich hat diese Wahl eindeutig eine ganz andere Qualität, als wenn ich unmittelbar reagiere. Ich entscheide mich für eine unmittelbare Reaktion. Ich bin sicher, dass mein Hirn und Rückenmark anders funktioniert, als wenn ich sage, ich warte erst mal ab. Und das ist aber wiederum anders, als wenn ich mir etwas ausdenke. Das bezeichne ich dann als Idee.
C. E.:
Das unmittelbare Reagieren ist ja so, wie wenn du im Straßenverkehr auf eine bedrohliche Situation reagierst und hinterher denkst: Wow, wie habe ich das gemacht, dass ich jetzt noch am Leben bin. Und auch die Gazelle kann nur überleben, weil sie das kann.
A. B.:
Ja, das wollte ich auch gerade sagen. Aber von dieser Ebene kommst du nie zu einer Komposition.
C. E.:
Bei der Wahl ist ja offenbar noch etwas zwischen geschaltet.
A. B.:
Genau, du wärst dann passiv. Aber den Moment, den ich hier versuche zu finden und ich erlebe das. Ich weiß das sozusagen phänomenologisch. Was da im Hirn passiert weiß ich nicht. Ich weiß, dass es etwas ganz anderes ist, wenn ich sage: In fünf Sekunden werde ich das tun. Oder sogar in einer Zehntelsekunde werde ich etwas anderes tun. Und ich möchte vermeiden, dass Improvisation nur eine passive Reaktion auf einen Strom von Impulsen ist. Und was ich auch nicht will, Dass das ein intellektuelles Konstrukt wird. Und ich glaube auch, dass das zweite gar nicht klappen kann, weil solche Ideen unsichtbar sind. Wir können nicht ineinander hinein sehen. Aber wir können uns miteinander synchronisieren, solange diese Impulse eine körperliche Wahrhaftigkeit haben. Solange sie verankert sind im Körper. Das heißt aber nicht, dass wir dann passiv ausgeliefert sind. Es gibt eine bestimmte Position. Also, wenn ich das jetzt hier so beschreibe, ich sitze immer ein bisschen vorne auf dem Stuhl. Und wenn ich von dieser Position jetzt spreche, dann gehe ich ein wenig zurück. Ich sitze sehr aufrecht aber ein klein wenig nach hinten gelehnt. Das fühle ich in meinem Körper. Ich beobachte ein bisschen. Ich habe ein klein wenig eine Perspektive von außen. Aber nicht so weit außen, dass ich über eine Hürde springen muss, um den Impuls zu greifen. Das ist total handlungsbereit.
Oder ein anderes Beispiel: Wenn man Tennis spielt und man empfängt den Aufschlag. Du kannst nicht wissen, von wo der Ball kommt. Du weißt nur, der kommt mit einer Geschwindigkeit von 220 km/h auf dich zu und du hast keine Millisekunde zu reagieren. Du musst einfach unmittelbar darauf reagieren, sonst hast du keine Chance. Und wenn du schon zu weit in die eine Richtung oder in die andere Richtung gelehnt bist oder zu weit nach hinten oder zu weit nach vorne, dann hast du keine Chancen. Du musst eine Position finden, von der aus du dich in möglichst jede Richtung bewegen kannst. Genauso schnell, wie in jede andere Richtung.
C. E.:
Ich glaube, dass ist, was Feldenkrais neutrale Position genannt hat.
A. B.:
Und diese neutrale Position kann man auch in der Musikimprovisation finden. Das ist körperlich neutral und das ist geistig irgendwie neutral. Du bist offen für Impulse, aber du bist nicht ausgeliefert. Du kannst immer nein sagen, dass heißt, es ist eine Position, wo du nein sagen kannst und ja sagen kannst. Und das ist eine räumliche Metapher. Du musst nah genug dran sein, dass es keine Verzögerung gibt, wenn du einen Impuls sozusagen greifst. Wenn du zu weit weg bist, dann wächst die Spannung nicht genug in dir. Dann bist du zu passiv und hörst nur zu und es ist auf einer Ebene egal. Und du musst genau diesen Mittelpunkt finden, wo du entscheidungsfähig bist in dem Moment, ohne dass du gezwungen bist. Und das ist jetzt ein wenig weit gefasst, aber ich glaube… (lacht): Das ist eigentlich, was wir über Objektivität sagen können. Du bist nie der Autor von deinen Impulsen, aber du bist auch nicht nur Empfänger. Im besten Fall ist das irgendwo in der Mitte. Was ich sagen könnte: Das System entscheidet. Das System, was ich bin, entscheidet. Und nicht mein Bewusstsein und nicht nur der Impuls.
C. E.:
Und dein System ist ja in Kontakt mit der Außenwelt.
A. B.:
Absolut. Das ist total wichtig. Und ich habe die Erfahrung mit meinen Studenten gemacht. Also, wenn ich der Impulsgeber bin, dann ist es nicht so, dass ich schon in dir bin und auch nicht, dass du in mir bist, sondern die Gruppe wird zu einem System. Und deshalb sage ich auch, dass ich mitverantwortlich bin für das Ganze.
8. Offene Intentionen
A. b.:
Ein Phänomen, was ich bemerkt habe, ist, dass es wichtig ist, dass man bereit ist, unvollendete Intentionen zu spielen. Auch Intentionen, die kein Ende in Sicht haben. Wenn ich etwas spiele und der Erfolg hängt davon ab, dass das Ende von dieser Geste – wo diese Geste hinführen kann – wesentlich ist für diesen Moment, dann gibt es nicht genug Freiraum für die anderen zu spielen, was sie wollen. Und die können unmöglich wissen, was meine Intention ist, wo das in zehn Minuten landen soll.
C. E.:
Ja, wenn du in zehn Minuten wissen willst, wo du dann sein willst, dann brauchst du ein Konzept.
A. B.:
Ja, genau. Und wenn du das nicht hast, dann ist das wie im Fußball eine Flanke. Ich weiß nicht, wer das auffangen wird und was er damit macht. Aber wenn ich die Flanke nicht spiele, dann passiert garantiert nichts. Aber wenn ich die Flanke zu spezifisch spiele, also wenn es eine Verabredung gibt, das der Stürmer… also wir geben uns ein Signal und dann soll er genau da sein, wo meine Flanke ankommt, das ist eine Verabredung. Das kann man natürlich immer machen. Aber wie kann so ein Vorgang zu Stande kommen, ohne eine Verabredung? Das kann nur passieren, wenn die Intention von der Flanke nicht zu genau ist, sondern offen ist.
C. E.:
Und jetzt komme ich noch mal auf meine Ausgangsfrage zurück: Wenn man jetzt so eine offene Intention hat, dann glaube ich, dass das wirklich ein anderes Körpergefühl erzeugt. Ich will ja wissen, warum die Spielbewegungen, z.B. eine Taste zu drücken, sich beim Improvisieren anders anfühlen einfach durch das Improvisieren selber.
A. B.:
Ich glaube, dass das wirklich anders gesteuert ist.
C. E.:
Wenn ich diese offenen Intentionen spiele, dann spiele ich sie ja in dem Wissen, das damit etwas geschieht, was außerhalb meiner persönlichen Kontrolle liegt.
A. B.:
Nee, ich glaube, das ist eine andere Art von Kontrolle. Es ist auf jeden Fall nicht die Kontrolle des reinen Subjekts. Und was mich so interessiert, ist, dass das, worüber wir hier reden, wirklich mit einer Evolution des westlichen Verständnisses des Subjektes zu tun hat. Unser Verständnis geht jetzt sehr weit weg von Decartes. Dass ein Ich immer ein Teil von einem System ist. Aber wie verstehen wir das, ohne dann nur ein Rädchen zu sein? Das wollen wir ja auch nicht.
C. E.:
Wir können ja schon aktiv auch steuern.
A. B.:
Und das ist was ich sage: Um zu einem System zu gehören, musst du unabhängig genug sein, allein zu sein in dem System. Du musst sozusagen Unabhängigkeit haben. Sonst kannst du nicht zu einem System gehören. Dann wärest du nur ein Rädchen. Die andere Seite ist, dass du nie alleine sein kannst, ohne ein Teil eines Systems zu sein. (…) Diese offenen Intentionen… Also eine Freundin hat mich darauf aufmerksam gemacht, indem sie gesagt hat: Du spielst zwei Stunden und machst nie einen Fehler. Und dann habe ich gedacht. Ich kann keinen Fehler machen. Ich spiele nie etwas, was für mich zu schwer ist.
C. E.:
Na ja, es kann schon passieren, dass man in eine Struktur rein gerät, die sehr kompliziert ist und wo der Tausenfüßlereffekt auch passieren kann.
A. B.:
Ja, aber grundsätzlich hat dir das niemand vorgeschrieben, aber du musst nie etwas spielen, was nicht aus deinem körperlichen Impuls kommt. Und es gibt nichts Virtuoseres, als wenn du eins bist mit deinem körperlichen Impuls. Und deswegen klingt es auch total virtuos, wenn du ein oder zwei Stunden spielst, wenn du bei dir bleibst.
Wenn jetzt Liszt ein Stück geschrieben hat mit vier Takten, die für mich total unbequem sind, dann kann ich diese vier Takte mit Glück an meinen Körper anpassen und zu meinem eigenen machen. Wenn ich Pech habe, dann ist es etwas, was vielleicht für Liszt gut war und für mich total schlecht. Vielleicht ist ein Griff zu groß. Und in dem Moment, wenn ein Pianist nicht ganz eins ist mit dieser Technik, dann hört man das natürlich, dass er schwimmt in dem Moment. Und wir Improvisatoren schwimmen eigentlich nie.
C. E.:
Ich bin dann auch immer mit meiner Atmung sehr verbunden, wenn ich improvisiere. Bei Stücken muss ich mir das manchmal erarbeiten, bzw. theoretisch kann ich ja auch ohne zu atmen Cello spielen. Beim Improvisieren ist das so verbunden. Es sind nicht vom Komponisten vorgegebene Phrasenlängen, sondern ich entscheide sie selber aus dem momentanen Impuls und dann stimmen sie einfach.
9. Quellen für Impulse
A. B.:
Ich habe mit meinen Studenten untersucht, welche Quellen es für Impulse gibt. Z.B. die Vorstellung von einem Klang, eine Geschichte, ein Gefühl, ein Blick, oder ein Geruch, oder …
C. E.:
Ich habe mal einen Auftritt gehabt, wo ich zu Gerüchen gespielt habe. Ich habe sie immer zuerst mit einer Wasserpfeife gerochen und dann hat das Publikum sie bekommen. Es war für mich sehr interessant, dass das so ganz direkt in mein Spiel geflossen ist. Visuelle Reize kann ich ja nicht umsetzen und so habe ich häufig die Sprache als Inspiration.
[1] Feldenkrais, Mosché. 1978. Bewußtheit durch Bewegung. Der aufrechte Gang. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 19.
[2] M. Feldenkrais hat diesen Satz in seinen Workshops und Ausbildungen in vielen verschiedenen Variationen immer wieder gesagt. Er zieht sich wie so ein Slogan durch die Methode und wird oft in der Werbung für die Methode zitiert.
[3] Kurzzusammenfassung der Übungen aus FG 8 S. 8: In der A-Übung repetiert man einen Ton und nimmt alle Impulse wahr. In der B-Übung repetiert man einen Ton und setzt alle kommenden Impulse unmittelbar um. Alles ist erlaubt. In der C-Übung repetiert man einen Ton und man wählt aus den Impulsen einen Impuls aus, den man umsetzt.
[4] Informationen unter www.taido-hannover.de
[5] Die Übungen heißen auf japanisch Ki No Remna und wurden von dem Aikidomeister Tada entwickelt. http://en.wikipedia.org/wiki/Hiroshi_Tada
Echt-Zeit Kompositionen (PTC)* ‚Present-Time Composition‘ und Kognitive Wissenschaft
Alan Bern, 1.Mai 2014
Denken Sie einen Moment ans Autofahren Lernen. Wir müssen lernen, wie wir das Steuer halten, beschleunigen und bremsen, Gänge wechseln, Spiegel und Tachometer im Blick behalten, auf Verkehrsschilder und Ampeln achten, die Verkehrslage und unsere Lage darin unmittelbar einschätzen und vieles mehr. Wir beginnen, indem wir unser Bewusstsein auf all dieses richten und sind am Anfang überfordert, so dass wir vergessen, in den Spiegel zu schauen und ab und zu eine Ampel übersehen. Nach einer Weile jedoch wird uns alles zur „zweiten Natur“ und bald schon fahren wir durch die Stadt, wobei wir nebenbei essen und trinken, ins Telefon oder mit unseren Mitfahrern sprechen, unseren Navigator anschauen und womöglich noch das eine oder andere YouTube Video. Es ist unglaublich, wie gut Menschen komplexe Aufgaben meistern, die anfangs große bewusste Aufmerksamkeit erfordern, um sie dann auf eine unbewusste Fähigkeit zu reduzieren. Wenn eine neue Fähigkeit besteht, erlaubt uns das spontan und intelligent, aber größtenteils unbewusst auf einzigartige Ereignisse zu reagieren, die sich zeitgleich um uns herum entfalten. Autofahren ist natürlich nichts Einzigartiges. Wir bewegen uns durch die Welt und behaupten uns, indem wir nach Maßgabe von Urteilen handeln, die kognitiv komplex, intelligent und hauptsächlich unbewusst ablaufen.
Kognitive Psychologen benutzen den Begriff System 1, um sich auf diese Fähigkeit zu beziehen. In seinem wunderbaren Buch „Denken: Schnell und Langsam“, beschreibt Daniel Kahneman** das System 1 als „anstrengungslos entstehende Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquellen der ausdrücklichen Überzeugungen und vorsätzlichen Entscheidungen des Systems 2 sind“. Das System 2 dagegen ist das „bewusste, vernünftige Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und darüber entscheidet, wie etwas einzuschätzen und was zu tun ist.“ *** Das System 1 oder unbewusste Denken ist extrem schnell, wohingegen das System 2, bewusstes Denken, ziemlich langsam ist. Der Hauptstrang westlichen Denkens setzt das System 2 mit dem Selbst gleich, so dass etwa Freuds Behauptung, es existiere ein Unbewusstes mit eigenen Gedanken und Wünschen, was dem Bewusstsein unbekannt ist, zu Beginn des 20.Jahrhunderts allgemeine Entrüstung auslöste.
Die Gleichsetzung des Selbst mit dem System 2 unterstützt die ideologische Trennung zwischen Musik-Komposition und Improvisation. In der Tradition europäischer Kunstmusik bedeutet Komponieren Musikelemente benutzen, um einzigartige und wiederholbare Werke zu schaffen. Das klassische Vorbild dafür ist der Komponist in seinem Atelier, am Schreibtisch, Klavier oder Computer, der Dinge ausprobiert, sie niederschreibt oder aufnimmt, sie überprüft und neu schreibt und so weiter. Im Rahmen der Begriffe der kognitiven Wissenschaft erschafft das System 1 des Komponierenden musikalische Ideen und Impulse, die des Systems 2 bedürfen, um transformiert, neu strukturiert und redigiert zu werden, um daraus eine kohärente komponierte Form zu schaffen. Neben der Harmonik, instrumentaler und bis zu einem gewissen Grad rhythmischer Sprache kann die Evolution der musikalischen Form als bemerkenswertestes Kennzeichen der europäischen Kunstmusik betrachtet werden. Kurse zum Analysieren widmen sich dem Verständnis von Exposition, Variation, Unterbrechungen, Interventionen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die dem musikalischen Werk seinen einzigartigen, formalen Zusammenhang geben.
Wenn eine gestaltete Form ausschließlich durch die Bewusstseinsprozesse eines Individuums geschaffen werden kann (System 2), dann müsste es unmöglich sein für eine Gruppe improvisierender Musiker, das spontan hervorzubringen. Es würde zu viele Impulse und Ideen geben, die miteinander wetteifern, nicht genügend Zeit und keine Vorgangsweise, untereinander zu redigieren und zu entscheiden. Gibt es Beweise für das Gegenteil?
Stellen wir uns ein beiläufiges Gespräch vor in einer Gruppe von Freunden. Themen werden angegangen, entwickelt und ausgearbeitet, fallen gelassen, wieder aufgegriffen und es wird wieder darauf zurückgekommen in vielfältiger Weise, abgetrennt durch Unterbrechungen und Abschweifungen. Mehrere Themen werden gleichzeitig in Umlauf gebracht und miteinander verwoben, das Gespräch wird von mehreren Sprechern oder Gruppen von Sprechenden zu verschiedenen Zeiten getragen, später tauchen sie wieder auf in denselben oder veränderten Konstellationen während des Gesprächs. Unterschiedliche Zeitdauer wird den verschiedenen Themen gewidmet, mit veränderter Intensität und Dichte. Tatsächlich trägt die komplexe Form solcher Gespräche viele Züge, welche groß angelegten Kompositionen ihren Zusammenhalt geben.
Wir schaffen die Form eines Gesprächs spontan ohne vorausgehende Anweisungen oder deutlich angesagte Vereinbarungen. Bemerkenswerterweise verhandeln wir die sich entwickelnde Form des Gesprächs während des Gesprächsaktes selbst, ohne dabei eine Metasprache zu brauchen, um uns zu verständigen über das Gespräch. Beispielsweise sagen wir nicht: „Ich schlage vor, in Betracht zu ziehen, ob die Bemerkung, die Du gerade machtest und mich damit unterbrachest, einen allgemeinen Wechsel des Themas und Sprechers nach sich ziehen sollte oder ob ich einfach für einen Moment lauter und schneller sprechen sollte, um damit zu zeigen, dass ich weder das Thema noch meine Rolle als dominierenden Sprecher aufzugeben bereit bin.“ Aber genau so etwas zieht der Komponist in Betracht, wenn er die Entscheidung trifft, ob der Trompetenruf inmitten einer Streicherpassage eine direkte Überleitung zu einer neuen Sequenz einleiten soll oder nur die Vorwegnahme einer Musik ist, die später folgt. Der individuelle Komponist, der das System 2 benutzt, trifft diese Entscheidung aufgrund bewusster Überlegungen. Aber eine Gruppe Improvisierender kann nicht die Musik anhalten, um Überlegungen anzustellen, was als nächstes passieren sollte. Gibt es einen Weg für die Gruppe zu entscheiden, der schnell genug ist, um mit dem Fluss zu gehen, ohne die Komplexität dafür zu opfern, die sich über die Überlegungen des Systems 2 ergeben?
Zwei Beispiele aus den kognitiven Untersuchungen über den Sport sind an dieser Stelle aufschlussreich. Zuerst einmal, wenn ein Profi-Baseballspieler einen ‚Schnell-Ball‘ wirft, ist die Zeit für den Schläger zu entscheiden, ob er ausholen soll oder nicht, geringer als die Zeit, die er bräuchte, um eine bewusste Entscheidung zu fällen. Aber die großen Schläger treffen den Ball oft und mit präziser Absicht. Das System 2 ist zu langsam, aber das System 1 ist schnell genug, um rechtzeitig zu handeln. Die unbewusste Entscheidung des Systems 1 hat die volle Geschwindigkeit eines primitiven Impulses, aber wie in unserem Fahrerbeispiel ist es angefüllt mit komplexen Erkenntnissen, wofür es einst bewusster Überlegung bedurfte, nun durch Meisterschaft zu einem unbewussten Impuls reduziert. Im folgenden Beispiel wurde ein Video von professionellen Basketballspielern, die Bälle ins Netz werfen drei Gruppen von Zuschauern gezeigt: Fans, Trainern und Profispielern. Das Video wurde an verschiedenen Punkten angehalten und die Zuschauer aufgefordert zu raten, ob der Ball ins Netz gehen würde oder nicht. Die Zuschauer, die Profispieler waren, konnten es ziemlich genau erraten, bevor der Ball die Hände der Werfer verlassen hatte. Gerne würde ich den tieferen Sinn dieser Beispiele länger erörtern, aber aus Zeitgründen werde ich einfach feststellen, was ich glaube, dem entnehmen zu können. Das, was möglich ist im Fahren, beim Gespräch und im Sport, sollte auch für die Musik möglich sein. Mit genügend Übung sollte es für das System 1 möglich sein, im Wesentlichen spontane, intelligente Entscheidungen zu treffen, die komplexe musikalische Formen schaffen. Und wenn Musiker mit genügend Erfahrung zusammen improvisieren, sollte es für sie möglich sein, zu antizipieren wohin die musikalische Idee eines anderen Spielers führen wird, indem die Aufmerksam dafür geweckt ist, wie sie auftauchte. Auf Wegen, wie sie jetzt erst von der kognitiven Wissenschaft erforscht werden, scheint es, dass das System 1 bestrebt ist, das System 1 der anderen zu spiegeln. Wir können das Empathie oder Verständnis nennen; es ermöglicht es dem Basketballspieler zu antizipieren, ob ein Wurf gut ist und schafft die Voraussetzung für scheinbar magische Momente in musikalischer Improvisation, wo es sich anfühlt, als hätte ein Kollege gerade meine Gedanken erraten.
Echt-Zeit Komposition (PTC) ist ein Weg für Solo- und Gruppen-Improvisation, der ausgerichtet ist auf improvisierte Musik mit Merkmalen, die gewöhnlich nur erwartet werden von bewusst überlegter, komponierter Musik, besonders die komplexe Form betreffend. Die Theorie der PTC rührt stark her von Einsichten aus der kognitiven Wissenschaft, die hier angeführten eingeschlossen ebenso wie andere. In respektvoller Parodierung und Anlehnung an Freud könnte das Motto von PTC lauten: „Wo das System 2 war, soll das System 1 sein“, d.h. wo bewusste Überlegung war, soll erlernter Impuls sein. PTC wird von einem Trainer mit Expertise gelehrt, der spezifische Übungen einsetzt und unmittelbares präzises Feedback an die Gruppe von Studenten gibt. Die ersten Schritte für den Lernenden bestehen darin, Impulse wahrzunehmen, in der Lage zu sein, darauf zu reagieren mit einer Hemmung, um dann zu entscheiden, wann er ausagiert wird und wann nicht. Diese Verbindung zum Impuls gibt den Anker ab für alle weiteren Schritte. Die Übungen führen zunehmend komplexe musikalische Informationen ein und auf jeder Stufe ist es Aufgabe des Lernenden, diese Information aus den Überlegungen des Systems 2 in das System 1 zu wandeln. Die Aufgabe des Trainers besteht darin, die Aufgaben nicht schneller zu präsentieren, als die Lernenden es auf diesem Weg verinnerlichen können. Das Maß des Lerntempos ist die eigene Fähigkeit des Lernenden, während des Improvisierens freie kreative Entscheidungen zu treffen. Solange die Entscheidungen des Lernenden aus dem System 1 stammen, werden sie schnell und flexibel genug sein, um mit dem Fluss der Musik mitzuhalten und die anderen Musiker in der Gruppe werden eine gute Gelegenheit haben, diese zu spiegeln und darauf zu antworten, indem sie ihr eigenes System 1 anzapfen. Sobald zu viel nicht internalisierte Information da ist, wird das System 2 übernehmen, die Kreativität und der Fluss der Musik gerät ins Stocken und die Kommunikation unter den Musikern bricht zusammen. Das Ensemble kann diese Grenze erforschen und versuchen, sie zu erweitern durch ein Üben, das die neuen Informationen sich verinnerlichen lässt. Aber an irgendeinem Punkt in jeder Session wird eine Grenze erreicht, die nicht mehr überschritten werden kann, das ist dann die Grenze für wirkliches Lernen in dieser Session. Oft passiert es, dass diese Grenze sich bereits aufgelöst hat bei der nächsten Sitzung oder schon bald danach, weil das gesamte menschliche Lernsystem Zeit braucht für den Internalisierungsprozess.
Ich bin in der glücklichen Lage berichten zu können, dass PTC Ensembles in Cincinnati, Antwerpen, Berlin und Weimar weit genug gediehen sind in dieser Methode, um anzuregen, dass viele Annahmen über die Grenzen der Improvisation im Vergleich zur Komposition revidiert werden können. Aber PTC steckt zugegebenermaßen noch in den Kinderschuhen.
Es gibt in unserer Gesellschaft wenig Anerkennung dafür, Zeit und Energie aufzubringen um die musikalischen Fähigkeiten auszubilden, die sich PTC zum Ziel gesetzt hat. Niemand bekommt 20 Millionen-Dollar-Verträge dafür, in der Liga der wertvollste Improvisator zu sein.
Also sind wir aufgefordert uns vorzustellen, welche Art des Musizierens möglicherweise entwickelt werden könnte, wenn unsere Werte und Ressourcen andere wären als die gerade geltenden. Aber die Erfinder des Fußball mussten auch einst den Tag sich vorstellen, wo es Mannschaften geben würde wie Real Madrid und Spieler wie Messi und sie mussten auch lange warten, bis der Tag dann endlich kam.
- 1) Present-Time Composition und PTC sind eingetragen und urheberrechtlich geschützt
- 2) Kahneman, Daniel (2011-10-25). Thinking, Fast and Slow (p.21). Macmillan. Kindle Edition
- 3) ebd., p.21